Stefan Mickischs Einspielung der Ring-Finali – die Urgewalt der Elemente
Die Präsentation von Ausschnitten aus einem Werk Wagners stellt in der Regel ein sehr unbefriedigendes Unterfangen dar, insbesondere im Falle des „Ring des Nibelungen”. Gerade bei instrumentalen Einspielungen wirkt sich dieses Vorgehen allzu oft verheerend auf die (außermusikalische) Form von Wagners Musik aus. Durch das Herauslösen aus dem Gesamtkontext verliert Letztere meist ihr inneres Gefüge und verwandelt sich in „das Formloseste, Unmöglichste, was sich denken läßt” (Zitat Wilhelm Furtwängler). Um also der Musik hier auch in einem sinfonischen Sinne gerecht zu werden, muss sich der Interpret in erster Linie mit der Problematik des Einstiegs und der logischen Fortführung auseinandersetzen. Des Weiteren spielen noch andere künstlerische Fragen eine große Rolle: Striche und Transpositionen sollten weitgehend vermieden werden, was aber aus praktischen Erwägungen (z.B. begrenzte Spieldauer) nicht immer möglich ist. Falls dennoch solche Eingriffe in das Werk vorgenommen werden müssen, erfordert dies äußerstes Fingerspitzengefühl, da zum einen die Übergänge organisch zu erfolgen haben, zum anderen aber weder die Logik des Dramas noch die musikalische Form daran Schaden nehmen darf. Bei nahezu allen Versuchen, die bisher unternommen worden sind, Wagnersche Werke (v.a. den Ring) anhand von Aus- oder Querschnitten kompakt vorzustellen, wurden diese Grundüberlegungen nur wenig berücksichtigt, so dass das Ergebnis letztendlich immer ein klanglich eindrucksvolles, aber inhomogenes und formloses Flickwerk blieb.
In der vorliegenden Einspielung der Ring-Finali von Stefan Mickisch wurde obige Problematik hervorragend gelöst, da die vier Teile des Rings sowohl dramatisch als auch musikalisch eine „sinfonische” Einheit aufweisen, wie im Folgenden aufgezeigt wird. Somit werden nicht nur in Bezug auf die Klaviertechnik (z.B. Ersetzen der üblichen stereotypen „Klavierauszugstremoli” durch feinste Vibrationen im Mikrobereich der Tastenbebung, die in dynamischem Weben und Singen die Schlagmechanik des Klaviers quasi aufheben), sondern auch formal durch den unkonventionellen Bearbeitungsstil völlig neue Welten erschlossen. Stefan Mickisch kann demnach als der Richard Strauss auf dem Gebiet der Wagner-Transkriptionen bezeichnet werden. Wie Strauss die vier musikalischen Urgewalten Bach, Beethoven, Mozart und Wagner in sich vereint und zu einem letzten Kulminationspunkt geführt hat, so stellt auch Stefan Mickisch eine Enderscheinung dar, die einen in dieser Perfektion noch nicht da gewesenen Höhepunkt der vom Ursprung eines Liszt ausgehenden, über Wolf, Gould und Kocsis führenden Wagnerschen Transkriptionstechnik darstellt. Die Urgewalt der vier Elemente wird hier also in vielerlei Hinsicht – analog zur Vorstellung in der indischen Philosophie – durch den Äther, den Geist (des Interpreten) gezähmt und in ein ausgeglichenes, harmonisches Gefüge eingegliedert, das am Ende der Götterdämmerung die Grundlage für eine neue Weltordnung bildet.
Die Transkription des Rheingold-Finales stellt sowohl im dramatischen als auch im sinfonischen Sinne eine Art Exposition dar und wird bezeichnenderweise mit Alberichs Fluchmotiv, dem Ursprung der großen Weltentragödie, eingeleitet. In der weiteren Entwicklung wird der Zuhörer Zeuge von Donners reinigendem Gewitterzauber, dem der Bau der Regenbogenbrücke durch seinen Bruder Froh folgt. Das Hauptthema dieses „Satzes” bildet der triumphale Einzug der Götter in die Burg Walhall, dem als kontrastierendes Seitenthema die Klage der Rheintöchter um das geraubte Gold gegenübersteht. Die Lösung dieses psychologischen Konflikts offenbart sich im Laufe des Dramas in Wotans „Idee der Freiheit”, welche abschließend nochmals durch das dominante Schwertmotiv untermauert wird.
Die Wahl des Einstiegs beim Walküre-Finale ist bezeichnend für Stefan Mickischs Wahrung eines homogenen Ablaufs. In nahezu allen Einspielungen dieses Schlusses erfolgt der Einstieg im Forte kurz vor Wotans Worten „Leb wohl du kühnes, herrliches Kind!”. Der Gefühlsausbruch Wotans ist in diesem Falle nicht nachvollziehbar, weil die Gründe dafür dem Hörer (musikalisch) verschwiegen werden. Stefan Mickisch hingegen setzt bereits zu Brünnhildes einfühlsamen Worten „Der diese Liebe mir ins Herz gehaucht” im Piano ein, wodurch überhaupt erst die Ursache für Wotans Entwicklung vom Rächergott zum liebenden Vater, die der Interpret im Folgenden in ergreifender Weise schildert, offenbart wird. Abgesehen davon, dass sich diese wunderbare, lyrische Stelle vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet viel besser eignet als der brachiale, konventionelle Einstieg, sind hier bereits allein anhand der dynamischen Entwicklung die Gefühlsveränderungen der beiden Charaktere nachvollziehbar. Wotans Zorn, der Abschied von seiner Lieblingstochter und der abschließende Feuerzauber bilden aufgrund des großen Spektrums an Stimmungswechseln eine Art Durchführung, die Wotans Zerrissenheit darstellt, welche sich aus den beiden Grundthemen des Rheingold-Schlusses ableitet.
Stefan Mickischs großformatige Bearbeitung des Siegfried-Finales lässt sich entweder als weiterer Durchführungsteil oder als (komplexer) Einschub in das klassische sinfonische Gebilde auffassen, als stürmischer Mittelteil ähnlich dem vierten Satz von Beethovens Pastorale. Er zeichnet sich durch atemberaubende dynamische Gestaltung und enorme Virtuosität aus und beweist einmal mehr, dass Stefan Mickisch in die Gilde der ganz großen Pianisten eingereiht werden muss. Dem Hörer werden hier Siegfrieds Feuerdurchschreitung, die „selige Öde auf wonniger Höh´” sowie die Entwicklung Brünnhildes, die sich zunächst dem entschlossenen Drängen Siegfrieds ängstlich entgegenstellt, aber dann doch von der Freude der ersten Liebe überwältigt wird, in suggestiven Klanggestalten vor Augen geführt. Den Abschluss dieses Teils bildet ein wahrhaftes Feuerwerk in strahlendem C-Dur.
Das Finale der Götterdämmerung stellt – wie sein Vorgänger – aufgrund seiner Länge sehr hohe Anforderungen an den Pianisten, der einerseits sein physisches Durchhaltevermögen unter Beweis stellen, andererseits aber auch musikalisch über einen Zeitraum von etwa 45 Minuten die Spannung aufrechterhalten muss, um den Zuhörer nicht zu langweilen. Stefan Mickisch gelingt dies in phänomenaler Weise, wobei er durch seine Fähigkeit, beim Spielen der Details dennoch das Ganze im Auge zu behalten, bisweilen an die Bruckner-Interpretationen von Sergiu Celibidache erinnert. Der Einstieg bei „Mime hieß ein mürrischer Zwerg” ist wiederum treffend gewählt. In der Erzählung Siegfrieds, die formell als Reprise betrachtet werden kann, wird alles Vorangegangene sowohl dramatisch als auch musikalisch noch einmal zusammengefasst und gesteigert, dem eine Entladung im Kulminationspunkt von Siegfrieds Trauermarsch folgt. Stefan Mickischs Schilderung der Todesstöße Hagens lässt den Hörer regelrecht erschauern und erweckt in ihm das Gefühl, als ob die Hölle hier für einen kurzen Moment ihre Pforten geöffnet hätte. Der vorzüglich, mit großem Ausdruck interpretierte Trauermarsch mündet homogen in die alles erlösende Schluss-Coda von Brünnhildes Opfertat. Meisterhaft ausgeführt ist der nicht hörbare Sprung von den letzten Takten des Trauermarsches in die Schlussszene. Der Übergang verläuft so organisch, dass selbst Wagnerkenner des hier durchgeführten Strichs kaum gewahr werden. Am Ende des Werks besticht Stefan Mickisch wiederum mit seiner glasklaren Transparenz, so dass wirklich alle Motive zum Vorschein kommen, die in der Partitur verzeichnet sind, was an dieser Stelle auch nur den wenigsten Dirigenten gelingt. Dadurch vereinigt er abschließend die in den verschiedenen Motiven personifizierten Urgewalten zu einem ausgeglichenen, hoffnungsvoll entsühnten Klangteppich, aus dessen Welt läuterndem Des-Dur die Sonne eines neuen, liebenden Menschenzeitalters in As-Dur (Parsifal) aufsteigen wird.
© 2003 Frank Fojtik